Auch wenn es dich enttäuschen mag: Leider besitzen wir keine Kristallkugel, die uns verrät, wie die Welt von morgen aussehen und wie KI unser Leben verändern wird.
In unserer Funktion als Wissenschaftlerinnen werden wir oft gebeten, Aussagen über die Zukunft zu treffen. Weigern wir uns, ernten wir nicht selten Augenrollen und Kommentare im Stil von „langweilige Akademiker“. Wir können aber gar nicht oft genug unterstreichen, dass man jedem skeptisch gegenüberstehen sollte, der behauptet, die Zukunft von KI und deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft vorhersehen zu können.
Doch nicht jeder geht mit seinen Vorhersagen so umsichtig um. In unserer modernen Welt dominieren reißerische Schlagzeilen und knappe Nachrichten mit nicht selten maximal 280 Zeichen. Da haben es zurückhaltende Mitteilungen schwer, während sich einfache und dramatisierende Nachrichten schnell durchsetzen. In Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung von KI triff dies in jedem Fall zu.
Hinweis
Die Medien sind von Extremen gekennzeichnet und lieben einfache, griffige Botschaften. Deshalb sind sie auch verrückt nach den Gallionsfiguren der KI-Szene, die sich plakativ für ihre jeweiligen hehren Ziele einsetzen und über die Zukunft von KI orakeln. Manche versprechen uns eine utopische Zukunft mit exponentiellem Wachstum, in der neue Wirtschaftszweige mit Milliardenpotenzial aus dem Boden schießen, wahre KI alle Probleme löst und die Menschen nicht mehr arbeiten müssen.
Andere behaupten, KI führe geradewegs in die Weltherrschaft. Und Pessimisten zufolge läutet KI gar das Ende der Menschheit (in ungefähr 20–30 Jahren) ein: Unser Leben werde „im Zeitalter von KI“ eine entscheidende Transformation durchlaufen und KI sei eine existenzielle Bedrohung.
Manche Prognosen enthalten wahrscheinlich zumindest ein Fünkchen Wahrheit. Andere sind lediglich als Beweis dafür anzusehen, wie schwer Vorhersagen überhaupt zu treffen sind, und viele ergeben schlichtweg keinen Sinn. Unser Ziel ist es, dich so gut zu informieren, dass du Aussagen über die Zukunft von KI kritisch hinterfragen kannst und nicht alles für bare Münze nehmen musst.
Der Politologe Philip E. Tetlock, Autor von Superforecasting – die Kunst der richtigen Prognose, teilt Menschen in zwei Kategorien ein: die „Igel“, die von einer großen Vision getrieben sind, und die „Füchse“, die viele kleinere Ideen haben. Zwischen 1984 und 2003 untersuchte Tetlock im Rahmen eines Experiments, welche Faktoren uns helfen können, die Genauigkeit von Vorhersagen zu bestimmen. Eines der wichtigen Ergebnisse der Studie war, dass Füchse deutlich bessere Vorhersagen treffen als Igel, insbesondere bei langfristigen Prognosen.
Mitteilungen, die in 280 Zeichen ausgedrückt werden können, sind aller Wahrscheinlichkeit nach eher den großen, grob gestrickten Igel-Ideen zuzurechnen. Achte deshalb auf sorgfältig begründete und ausgewogene Informationsquellen. Sei skeptisch bei einfachen Aussagen, die sich auf ein einziges Argument stützen.
Auch wenn es schwierig ist, die Zukunft vorherzusagen, so können wir doch die Entwicklung von KI und den gegenwärtigen Status quo einer näheren Betrachtung unterziehen. Vergangenheit und Gegenwart so gut wie möglich zu verstehen, wird uns hoffentlich bestmöglich für die Zukunft wappnen − was immer sie auch bringen mag.
Wie viele andere Forschungsgebiete unterlag auch KI im Laufe der Jahre unterschiedlichen Trends, die in der Wissenschaft als Paradigmen bezeichnet werden. Für gewöhnlich akzeptiert die Mehrheit der Forschungsgemeinschaft ein solches Paradigma und trifft auf seiner Basis optimistische Vorhersagen bezüglich zu erwartender Fortschritte in näherer Zukunft. In den 1960er-Jahren zum Beispiel bestand die weit verbreitete Meinung, neuronale Netze könnten durch Nachahmung natürlicher Lernmechanismen (vor allem der des menschlichen Gehirns) alle KI-Probleme lösen. Das große Paradigma der 1980er waren dann Expertensysteme, die auf logischen und von Menschen programmierten Regeln basierten.
Dabei folgt die Entwicklung der Paradigmen stets einem bestimmten Muster: Zu Beginn einer jeden Trendwelle stimmt eine Reihe von frühen Erfolgen alle Beteiligten glücklich und optimistisch. Selbst wenn die positiven Ergebnisse nur für bestimmte Bereiche gelten und keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben, rücken sie schnell in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Daraufhin beschäftigen sich immer mehr Wissenschaftler mit KI (oder zumindest bezeichnen sie ihr Forschungsgebiet dann so), um vom Anstieg an Fördergeldern zu profitieren. Und auch Unternehmen bringen verstärkt eigene KI-Initiativen auf den Weg oder intensivieren ihre laufenden Bemühungen aus Angst, abgehängt zu werden (englisch: fear of missing out, kurz FOMO).
Bislang schlug die positive Stimmung jedoch stets mit gewisser Regelmäßigkeit ins Gegenteil um – spätestens dann, wenn die selbstbewusst angekündigte allumfassende KI-Lösung von unüberwindbaren Problemen ausgebremst wurde. (Meist waren diese Probleme vorher als Lappalien abgetan worden.) Im Fall der neuronalen Netze in den 1960ern-Jahren biss man sich am Umgang mit Nichtlinearitäten die Zähne aus. Und auch die steigende Anzahl von Parametern, die für neuronale Netzarchitekturen benötigt wurden, bekam man nicht in den Griff. Die Expertensysteme in den 1980ern scheiterten letztlich am Umgang mit Unsicherheiten und dem gesunden Menschenverstand. Als sich das wahre Wesen und Ausmaß der verbleibenden Hindernisse nach Jahren voller Anstrengungen und nicht eingelöster Versprechen offenbarte, wuchs der Pessimismus in Bezug auf das Paradigma und ein KI-Winter (= Flaute) brach an: Das Interesse am Fachgebiet schwand und die Forschung schlug eine neue Richtung ein.
Seit der Jahrtausendwende befindet sich KI wieder im Aufschwung. Moderne KI-Methoden konzentrieren sich darauf, Probleme in kleinere, isolierte und klar definierte Einheiten zu zerlegen und sie dann eins nach dem anderen zu lösen. Dabei lässt man bewusst die großen Fragen nach der Bedeutung von Intelligenz, Verstand und Bewusstsein außen vor und konzentriert sich vielmehr auf die Entwicklung praktischer Lösungen für reale Probleme. Das sind großartige Neuigkeiten für uns alle, denn nun können wir direkt von KI profitieren!
Darüber hinaus besitzen moderne KI-Methoden eine weitere Eigenschaft, die in unserer komplexen und chaotischen Welt von unschätzbarem Wert ist: die Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen (siehe Kapitel 3 zum Umgang mit Wahrscheinlichkeiten). Und schließlich wurde der aktuelle Aufwärtstrend von KI auch durch das Comeback neuronaler Netze und Deep-Learning-Techniken unterstützt, die Bilder und andere reale Daten besser verarbeiten können als alle anderen bislang bekannten Lösungen.
Hinweis
Es bleibt abzuwarten, ob sich die Geschichte wiederholen und der aktuelle Hype von einem KI-Winter abgelöst werden wird. Doch selbst wenn die Entwicklung hin zu immer besseren Lösungen erneut zum Stillstand kommen sollte, wird dies die gesellschaftliche Bedeutung von KI keinesfalls schmälern. Da sich die moderne KI-Forschung auf nützliche Lösungen mit Realitätsbezug konzentriert, trägt sie bereits Früchte − anders als frühere Ansätze, die daran scheiterten, dass sie versuchten, vornehmlich die großen Fragen zum Thema Intelligenz im Allgemeinen zu beantworten.
Zu Beginn dieses Kurses über KI stellten wir eine Reihe bekannter Anwendungen mit direktem Praxisbezug vor. Drei Beispiele standen dabei besonders im Fokus: selbstfahrende Autos, Empfehlungssysteme sowie Bild- und Videoverarbeitung. Im weiteren Verlauf wurden dann auch viele weitere Anwendungsformen thematisiert, die zum aktuellen und fortschreitenden Technologiewandel beitragen.
Hinweis
Dank der Verschiebung des Schwerpunkts weg von den großen Problemen und hin zu praktischeren Aspekten des täglichen Lebens sind wir nun ständig von KI umgeben (auch wenn wir uns dieser Tatsache zumeist gar nicht bewusst sind): Die Musik, die wir hören, die Produkte, die wir online kaufen, die Filme und Serien, die wir uns ansehen, die Wahl unserer Reiserouten und sogar die Nachrichten und Informationen, die wir beziehen – all das wird zunehmend von KI beeinflusst. Und auch sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen, von der Medizin über die Astrophysik bis hin zur Geschichte des Mittelalters, wenden KI-Methoden an, um unser Verständnis vom Universum und von uns selbst zu vertiefen.
Der Terminator ist eine der verbreitetsten und beständigsten Vorstellungen davon, wie sich KI in der Zukunft manifestieren wird: ein brutaler humanoider Roboter mit Metallskelett und rot leuchtenden Augen. Im gleichnamigen Film des Regisseurs James Cameron aus dem Jahr 1984 wird sich ein globales KI-gesteuertes Verteidigungssystem namens Skynet seiner Existenz gewahr und löscht einen Großteil der Menschheit mit Atombomben und hochentwickelten Killerrobotern aus.
Hinweis
Es gibt zwei Szenarien, die zur Ankunft eines Terminators bzw. zu ähnlich furchterregenden Formen von Roboteraufständen führen. Im ersten, das auch dem Film von 1984 zugrunde liegt, wird sich ein mächtiges KI-System seiner selbst bewusst und beschließt daraufhin, dass es die Menschheit im Allgemeinen zutiefst verabscheut.
Im zweiten Szenario wird die Roboterarmee von einem intelligenten, sich seiner selbst jedoch nicht bewussten und prinzipiell von Menschen kontrollierten KI-System gesteuert. Ein solches System könnte zum Beispiel auch − ganz harmlos − auf die Herstellung von Büroklammern programmiert werden. Da es aber eine überlegene Intelligenz besitzt, würde es die Herstellung von Büroklammern schnell so weit optimiert haben, wie es mit den verfügbaren Ressourcen (Strom, Rohstoffen etc.) möglich ist. Danach käme es vielleicht zu dem Schluss, dass es noch mehr Ressourcen zur Herstellung der Büroklammern braucht. Dafür müsste das System den Verbrauch der Rohstoffe für andere Zwecke allerdings unterbinden, auch wenn sie für die menschliche Zivilisation lebenswichtig wären. Die einfachste Lösung bestünde also darin, alle Menschen zu töten, würde dies doch eine größere Menge an Ressourcen für die Hauptaufgabe des Systems, die Herstellung von Büroklammern, verfügbar machen.
Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb beide oben genannten Szenarien extrem unwahrscheinlich sind und eher Science-Fiction als ernst zu nehmende Spekulationen über die Zukunft von KI darstellen.
Der Gedanke, dass als ungewollter Nebeneffekt von KI-Entwicklungen ein superintelligentes KI-System mit eigenem Bewusstsein entsteht, das in der Lage ist, seine Erfinder auszutricksen und die Menschheit zu unterwerfen, ist naiv. Wie du in den vorangehenden Kapiteln sehen konntest, sind KI-Methoden nichts anderes als automatisierte Logik auf Grundlage einer Kombination aus vollständig nachvollziehbaren Grundregeln und großen Mengen an Eingabedaten. Beide Bestandteile – Regeln und Daten − stammen von Menschen oder Systemen, die wiederum von Menschen erstellt wurden. Die Vorstellung, dass der Nächste-Nachbarn-Klassifikator, die lineare Regression, das Computerprogramm AlphaGo oder gar ein neuronales Netz ein Bewusstsein entwickeln und beginnen, sich in superintelligente KI-Wesen zu verwandeln, bedarf einer (äußerst) lebhaften Fantasie.
Wir wollen jedoch nicht kategorisch ausschließen, dass es möglich ist, eine Form von Intelligenz zu schaffen, die der des Menschen ähnelt. Es genügt ein Blick in den Spiegel, um die Möglichkeiten eines hochintelligenten Systems zu sehen. Wir möchten lediglich noch einmal unterstreichen: Superintelligenz entsteht nicht aus der Entwicklung spezifischer KI-Methoden und deren Anwendung zur Lösung realer Probleme (siehe auch Kapitel 1, KI-Philosophie, allgemeine versus spezifische KI).
Ein weiteres Lieblingskonzept derjenigen, die an superintelligente KI glauben, ist die sogenannte Singularität (englisch: singularity): ein System, das sich selbst optimiert, neu vernetzt und so seine eigene Intelligenz in rasantem, exponentiell steigendem Tempo vergrößert. Eine derartige Superintelligenz ließe die Menschheit so weit hinter sich, dass wir wie Ameisen erscheinen würden, die ohne zu zögern ausgelöscht werden könnten. Doch ein solcher exponentieller Intelligenzzuwachs ist aus einem einfachen Grund unrealistisch: Selbst wenn das betreffende System seine eigene Arbeitsweise optimieren könnte, hätte es in der Folge doch mit immer schwierigeren Problemen zu kämpfen, die seine Entwicklung wiederum verlangsamen würden. Ähnlich verhält es sich beim Fortschritt in der Wissenschaft, der immer größere Leistungen und mehr Ressourcen vonseiten der Forschungsgemeinschaft und der Gesellschaft nötig macht, auf die die Superintelligenz jedoch keinen Zugriff hat. Noch hat die menschliche Gesellschaft die Macht zu entscheiden, wozu Technologien – auch KI-Technologie – verwendet werden. Und es ist eben die Technologie, die uns diese Macht verleiht. Dies hat zur Folge, dass wir mit jedem Fortschritt in der KI-Technologie mächtiger werden und potenzielle daraus erwachsende Risiken immer besser kontrollieren können.
Hinweis
Das Beispiel mit den Büroklammern ist als Problem der Zielkonflikte bekannt: Die Schwierigkeit besteht darin, die Ziele des Systems so zu spezifizieren, dass sie sich an unseren Werten orientieren. Aber nehmen wir einmal an, wir hätten wirklich ein superintelligentes System erschaffen, das in der Lage ist, alle Menschen zu vernichten, die es wagen, sich ihm in den Weg zu stellen. Meinst du nicht, dass ein solches System auch intelligent genug wäre, um zu erkennen, dass das Ziel der Anweisung „Büroklammern herstellen“ nicht darin besteht, die Erde in eine Büroklammernfabrik galaktischen Ausmaßes zu verwandeln?
Superintelligente KI, die die Weltherrschaft an sich reißt, ist kein reales Problem, über das man sich ernsthaft Sorgen machen müsste. Der Terminator ist vielmehr der perfekte Stoff für einen Hollywood-Film, etwas, mit dem man leicht Aufmerksamkeit erregen kann, ein Aufmacher für Journalisten, der die Klickraten in die Höhe treibt, und eine wirksame Finte, mit der sich die allgemeine Aufmerksamkeit von wenn auch langweiligen, so doch realen Bedrohungen wie Atomwaffen, fehlender Demokratie und dem Klimawandel ablenken lässt. Hierin ist die wahre Gefahr zu sehen. Wir werden uns gleich den wirklichen Problemen zuwenden, die aus KI erwachsen. Behalte an dieser Stelle lediglich im Hinterkopf: Vergiss den Terminator – es gibt wichtigere Dinge, auf die wir uns konzentrieren sollten.